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Es geht nicht einfach: warum Lernen für Komplexität oft unbequem ist

Was bedeuten die Möglichkeiten und Herausforderungen des menschlichen Geistes für uns? Rolf Jucker hat aus seinem Buch «Can We Cope with the Complexity of Reality? Why Craving Easy Answers Is at the Root of our Problems” 10 Thesen herausgearbeitet.

1.    Wir können unsere Welt nur verlässlich und sinnvoll verstehen mit einem evidenz-basierten, wissenschaftlichen Zugang

Eine historische Reflexion darauf, wie tragfähiges Wissen zustande kommt, genauso wie die Erfahrungen der jüngsten Zeit, zeigen uns, dass wir sinnvolles Weltverständnis nur generieren können, wenn wir verlässlich zwischen Fakt und Fake News unterscheiden können. Dafür brauchen wir Verifizierungsprozesse, wie sie nur die Wissenschaft bieten kann: Offenheit, Fehlerkultur und Revidierbarkeit bei neuen Erkenntnissen, Verifizierung von Ergebnissen durch unterschiedliche Methoden, Reproduzierbarkeit, Überprüfung durch andere, Evidenz zählt, aber nicht Autorität, etc.

2.    Vertraue nie einer einzigen Person (selbst wenn sie auf Deinen Namen hört): persönliche Erfahrung, Erinnerung und Alltagswissen sind nur selten belastbar und aussagekräftig

Aus der Psychologie und der Hirnforschung wissen wir, dass unsere persönliche Erfahrung, unser persönliches Wissen, unser Gedächtnis, sogar das, was wir unser ‘Ich’ nennen, höchst unzuverlässige Illusions-Konstruktionen unseres Gehirns sind. All dies unterliegt einer Vielzahl von Wahrnehmungsverzerrungen, psychologischen Befangenheiten und unreflektierten kulturellen Vorurteilen, dass wir sinnvolle Lösungen nur sehr selten darauf abstellen können. Das über Jahrzehnte kollektiv erarbeitete Wissen über die Realität ist deswegen immer wichtiger, als unser persönliches, unweigerlich verzerrtes mentales Modell davon, welches unser Gehirn laufend konstruiert. Deswegen sind heute Lösungen zu komplexen Problemen nie mehr von Einzelpersonen zu leisten, sondern nur im Team. Daraus folgt: wir müssen lernen, kollektiv verifiziertes Wissen (wie z.B. zum Klimawandel) ernstzunehmen und unseren (Eigen-) Interessen zu misstrauen.

3.    Herz, Hand und Kopf ist eine Illusion: Intuition und Emotionen helfen nicht

Wut, Betroffenheit und Emotionen helfen nicht bei langfristigen Lösungen für komplexe Probleme. Sie werden, bevor wir sie spüren, vom Gehirn konstruiert aus Vorurteilen, Vorerfahrungen, kulturellen Reaktionsmustern und vielem mehr. Diese Gefühle verhindern den Dialog, sinnvolle Diskussionen. Denn das Bauchgefühl, die Intuition verleitet uns zum kurzfristigen Schwarz-Weiß-Denken, zum Beharren auf unserer Position. Es fehlt an einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit einem Problem und den Zusammenhängen. Die Alltagserfahrung ist wie magisches Denken naiv. Sie erlaubt keine differenzierte Reflexion und kaum je den Einbezug von bereits von anderen erarbeitetem, verlässlichem Wissen.

4.    Arrogance of Ignorance bzw. Anekdoten sind keine Evidenz: Meinungen und einzelne Beispiele

Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass es genügt, sich zu irgendeinem Thema eine noch so absurde Meinung aus den Fingern zu saugen, die dann gleichwertig allen anderen Meinungen gegenübersteht, haben wir seit der Aufklärung verlässliche Prozesse entwickelt, die es uns erlauben, Meinung von Wissen zu unterscheiden. Gerade im Bildungsbereich sind wir darauf angewiesen, dass wir unsere Hausaufgaben machen und evidenzbasiert, nicht ideologisch oder missionarisch agieren – wollen wir tatsächlich den Übergang in eine nachhaltige Schweiz befördern.

5.    Komplexität verschwindet nicht, nur weil wir so tun, wie wenn sie nicht da wäre

Wir leben in einer zunehmend komplexen Welt. Wir werden nur mit ihr zurande kommen und die zunehmend komplexen Herausforderungen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust meistern, wenn wir uns dieser Komplexität stellen. Mit Vereinfachungen schön reden hilft da nicht. Das heisst: wir müssen eine Immunität gegen einfache Antworten und schwarz-weisse Lösungen entwickeln. Wir müssen also nicht nur im jeweiligen Gebiet den aktuellen kollektiven Wissensstand überhaupt erst wahrnehmen (z.B. was evidenzbasierte Bildung heisst), sondern wir müssen systemische Lösungen für unterschiedliche Systemebenen (z.B. lokal, regional, kantonal, sprachregional) und unterschiedliche Zielpublika (z.B. PH, Schulleitungen, Lehrpersonen) entwickeln. Die Guru-Einheitslösung für alles gibt es nirgends mehr.


6.    Un-learning und re-learning: Aufbau einer Immunität gegen schlampiges Denken und Ideologie

Wir haben es uns in unserer Denkwelt meist gemütlich eingerichtet: an viele Dinge glauben wir, ohne uns je überlegt zu haben, ob dies wirklich Sinn macht; bei anderen Themen, wie z.B. Überbevölkerung, haben wir Angst, dass die Diskussion schwierig werden könnte, so dass wir lieber die Finger davon lassen. Aber Glauben und Hoffen werden uns nie helfen, die zentralen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Nur wenn wir ihnen sorgfältig und differenziert auf den Grund gehen, können wir sie lösen. Da hilft nur die von Carl Sagan beschriebene Bereitschaft, ganz genau und kritisch hinzuschauen (‘intense scepticism’) und gleichzeitig bereit zu sein für die Möglichkeit, dass alles anders ist als man denkt (‘total openness’). Erfolgreiches Lernen heisst, gegen ideologische Überzeugungen, religiöse Dogmen oder Fake News immun zu werden. Weil man weiss, wie man sie (selbst-) kritisch befragen kann.

7.    Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. (Immanuel Kant)

Eine Demokratie, d.h. die Selbstbestimmung der Menschen in einer Gemeinschaft, kann nur funktionieren, wenn die an diesem Prozess beteiligten Menschen die Fähigkeiten und Kompetenzen haben, mündig im Sinne von Kant zu agieren. Wo Menschen an den Lippen von autoritären oder religiösen Führern hängen, um zu erfahren, wie sie Welt zu verstehen und was sie zu tun haben, ist dies sicher nicht der Fall. Deshalb ist die grösste Herausforderung unseres Bildungssystems, wie wir Kinder, Jugendliche und Erwachsene in die von Kant angesprochene, selbstbestimmte Mündigkeit begleiten können.

8.    Nur als Gemeinschaft sind wir überlebensfähig

Der Gedanke, dass wir gleichzeitig Individuum und Teil der Gesellschaft sind, ist bei uns nicht sehr gut verankert. Der Grundtenor ist: Mir sagt keiner, was ich zu tun habe. Wir übersehen, dass wir immer abhängig sind von der Gesellschaft, von der Wirtschaft, von der Umwelt. Zugrunde liegt ein ideologischer Prozess: In den vergangenen 50 Jahren wurde uns von Politik und Werbung kontinuierlich eingeimpft: Nur du allein bist deines Glückes Schmied. Dramatischer könnte man das gesamte vorhandene Wissen, das belegt, dass wir Menschen durch und durch soziale Wesen sind, nicht missverstehen.

9.    Lasst uns erwachsen werden! Systemische Lösungen erfordern langsames Denken. Gönnen wir es uns. Wir werden schneller zum Ziel kommen.

In den sozialen Medien und in der Öffentlichkeit herrscht zunehmend die ‘génération offensée’ (Caroline Fourest). Aus diesem Modus des zweijährigen Kindes, das sich bei jeder Gelegenheit beleidigt fühlt und wuterfüllt schreit und um sich schlägt, müssen wir raus. Donald Trump hat uns gerade vier Jahre lang vorgelebt, was für Zerstörungen solches instinktgeleitetes Verhalten anrichten kann. Wir müssen alle wieder lernen, langsam und sorgfältig zu überlegen, sich selbstkritisch zu hinterfragen, andere Positionen wahrzunehmen, den aktuellen Wissenstand aufzuarbeiten, von unserem hohen Ross herunterzusteigen.

10.    Es gibt nur eine, materielle Welt und wir können sie verstehen.

Die letzten 250 Jahre haben uns gezeigt, dass wir unsere Welt verstehen können, ohne Rückgriff auf Magie, Metaphysik oder immaterielle Wesen. Erkenntnisse wie Emergenz können heute Dinge erklären, von denen wir vor 50 Jahren glaubten, wir würden sie nie verstehen können. Was wir brauchen, ist Geduld und Beharrlichkeit sowie das Vertrauen in unsere Lernfähigkeit.

Rolf Jucker, Stiftung SILVIVA

Rolf Jucker: Can We Cope with the Complexity of Reality? Why Craving Easy Answers Is at the Root of our Problems. Cambridge Scholars Publishing, 2020. ISBN13: 978-1-5275-4851-0


Übersichten über die wichtigsten kognitiven Verzerrungen (cognitive biases). Dies sind systematische fehlerhafte Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen und bleiben meist unbewusst.


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Kommentare: 2
  • #1

    Rahel Wöhrle (Mittwoch, 17 März 2021 13:20)

    Zu These 1, aus Frank Urbaniok: «Wie andere Bereiche des menschlichen Lebens und Zusammenlebens ist auch die Wissenschaft von den menschlichen Konstruktionsschwächen betroffen. Wissenschaft zu betreiben ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit. Auch sie kann von den selben Fehlerquellen und Verzerrungen betroffen sein.»

    Zu These 3, aus Frank Urbaniok: «Wir gehen Ambivalenzen nach Möglichkeit aus dem Weg und sind bestrebt, kognitive Dissonanzen zu vermeiden. Logische Widersprüche, die wir mit der Vernunft erkennen können, führen nicht auf direktem Weg zu Einstellungs- oder gar Verhaltensänderungen. Im Gegenteil. Denn das Credo lautet: besser falsch, dafür schnell und/oder eindeutig. Das heisst auch: die gefühlte, bequeme Wahrheit schlägt oft die unbequeme, kognitive Wahrheit.»
    Die kognitiven Verzerrungen kennen, erkennen – gerade auch bei sich selber – und lernen, wie sie korrigieren kann, sollte zur Grundbildung gehören.

    Zu These 8, aus Frank Urbaniok: «In der Geschichte des Homo Sapiens ging die Ausweitung und Intensivierung des Kooperationspotentials immer auch mit der Ausweitung und Intensivierung der Möglichkeiten von Gewalthandlungen einher.
    Wir sind die Nachfahren der einzigen Menschenart, die sich gegenüber allen anderen durchgesetzt hat. Es gibt ein plausibles Szenario, nach welchem wir die Nachfahren der Menschenart sind, die deswegen als einzige überlebte, weil sie das schmutzige Instrumentarium (Lügen, Täuschung, Manipulation, Stehlen und Gewalt) intensiv und erfolgreich einsetzte. Anders ausgedrückt: Die konsequentere und erfolgreichere Verwendung des schmutzigen Instrumentariums war ihr grosser evolutionärer Vorteil.»

    Quelle: Frank Urbaniok: Darwin schlägt Kant. Über die Schwächen der menschlichen Vernunft und deren fatale Folgen. Orell Füssli Verlag, 2020.
    ISBN: 978-3-280-05722-3

    https://www.ofv.ch/sachbuch/detail/darwin-schlgt-kant/504777/

  • #2

    Kathrin Schlup (Mittwoch, 24 März 2021 08:14)

    Lieber Rolf
    Vielen herzlichen Dank für deine Thesen, die ich dann gerne auch noch mündlich diskutiere - sie bieten genügend Reibungsfläche, um wiederholt als Dialogstarter zu wirken!
    Mir sind beim Lesen drei Texte in den Sinn gekommen, die ich in Südafrika verfasst habe - der Aufenthalt dort half sehr, vertraute Brillen, Hüte und Dogmen abzulegen - ich bitte den/die geneigte Leserin, insbesondere den ersten Text mit der geforderten total openness zu lesen:
    zu These 6:
    zu Openness: https://theschlupfive.wordpress.com/2013/05/30/reizlos/
    zu Un-learning und Re-Learning: https://theschlupfive.wordpress.com/2012/10/11/meinkleinesherz/

    zu These 8: eine Auseinandersetzung mit den Begriffen "liberty" und "freedom"
    https://theschlupfive.wordpress.com/2013/10/28/the-liberty-to-feel-free/

    herzlich, Kathrin