
Dies ist der Start zu einer Serie von Posts zu Digitalität und (Umwelt-)Bildung, ein Aufruf zur Diskussion darüber, eine Einladung zur SILVIVA Erfa-Tagung (oder ans erste SILVIVA BarCamp) und eine Erklärung, warum ich "Digitalität" statt einem anderen Buzzword verwende.
Die Diskussion um NUB und Digitalität ist aktuell
Während den Schulschliessungen in der Coronakrise erlebten die digitalen Kommunikationsformen ein Hoch. Viele Schulen verlegten in kürzester Zeit ihre Lehr- und Lernaktivitäten ins Netz. Das musste schnell gehen und häufig ging es vorerst auch einigermassen reibungslos – die Not machte erfinderisch und setzte erstaunliche Ressourcen frei. Ob und wieviel gute Bildung dabei übriggeblieben (oder entstanden) ist, gilt es noch zu evaluieren. Und dann daraus zu lernen. (Erste Erkenntnisse hat die PH Zürich basierend auf ihrer Beratungstätigkeit zusammengetragen).
Gleichzeitig wurde und wird von vielen Lehrpersonen und Schulen geraten, mindestens einen Teil der freien Zeit draussen zu verbringen. Sie entwickelten Aufgaben und Lernaktivitäten für draussen. Der Lernraum in der Natur erhält einen wichtigen – für manche neuen – wichtigen Platz neben dem digitalen Lernraum. SILVIVA empfiehlt das Draussen unterrichten natürlich weiterhin und auch vermehrt und bietet dafür Hilfestellungen an. Auch bei diesen häufig spontanen Outdoor-Selbstlernaktivitäten muss die Qualität analysiert und diskutiert werden.
Die Diskussion um NUB und Digitalität ist wichtig

Lange vor der Coronakrise hat sich SILVIVA vorgenommen, die Erfa Tagung 2020 dem Thema «Digitalisierung» zu widmen. Wie können digitaler Wandel und die NUB sich gegenseitig befruchten? Dass das Thema dank Schulschliessungen, «Homeschooling» und Fernunterricht sooo aktuell sein wird, wussten wir damals natürlich nicht. Wir möchten trotz der Aktualität sehr grundsätzlich über Digitalisierung und NUB nachdenken – oder besser über NUB in Zeiten der Digitalität.
Dass die Digitalisierung die ganze Gesellschaft betrifft und der digitale Wandel einen Einfluss auf die Bildung hat, ist unbestritten. Wir als Umweltbildungsfachleute müssen uns fragen, was dieser Wandel mit der (naturbezogenen) Umweltbildung, ja mit der Bildung überhaupt macht. Wie handeln wir in dieser sich verändernden Kultur der Digitalität? Wie beeinflussen wir sie? Wie werden unsere (Natur-)Bildungsaktivitäten, ev. unser Bildungsverständnis, von digitalen Realitäten beeinflusst?
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Diese Diskussion möchten wir in passender Form mit der ganzen Szene führen. So wird die SILVIVA Erfa Tagung 2020 zum BarCamp (mindestens zum Teil, und findet so übrigens wieder stärker zur ursprünglichen Bedeutung zurück: Erfahrung-Austausch-Tagung). Das heisst, wir brauchen die Erfahrung, die Kompetenzen und die aktive Mitarbeit von allen aus der (N)UB-Szene - und von weiteren Interessierten.
Zusätzlich soll die Debatte über «NUB in Zeiten der Digitalität» auch im Netzt stattfinden können. Offen, transparent, asynchron, konstruktiv, ko-kreativ, … Wir publizieren in diesem Blog bis zur Erfa Tagung diverse Posts rund um Digitalität und Bildung (und NUB). Sie sollen zum Weiterdenken, Diskutieren und so zum gemeinsamen Lernen anregen. Nach der Tagung werden die Ergebnisse in die weiterführende Diskussion einfliessen.
Lasst uns gemeinsam die NUB zeitgemäss weiterentwickeln. (Das Thema zeitgemässe Bildung wird übrigens im nächsten Blogpost etwas genauer unter die Lupe genommen). Diskutiert hier mit und meldet uns eure Ideen, Wünsche an das Thema, insbesondere Vorschläge für Referenten, Sessions, etc. für die Tagung. Wenn ihr gerne selber etwas an der Erfa-Tagung vorstellen möchtet, bekommt ihr Zeit und Raum. Wendet euch direkt an uns, via Mail (an Christian Stocker) oder noch lieber via die Kommentarfunktion unten. Wir freuen uns auf einen regen Austausch.
Warum Digitalität? Und nicht Digitalisierung, digitaler Wandel oder digitale Revolution, …?

Wir sind mittendrinn
Egal wann genau man den Beginn des digitalen Wandels verorten will (in der Regel irgendwann gegen Ende des 20. Jahrhunderts), er dauert schon eine Weile an und er geht sicher noch weiter. Auch egal, wie tiefgreifend oder wie revolutionär man den digitalen Wandel beurteilt, er betrifft die ganze Gesellschaft. Und damit befinden wir uns definitiv in einer digitalen Zeit oder einer digitalen Realität – historisch und als Teil des Bildungssystems.

Die digitale Welt ist auch Teil der Welt
Die Definition aus Wikipedia zeigt gut, wie mit dem Begriff «Digitalität» das «Digitale» und die «Realität» gleichzeitig beschrieben wird. Und wie die Gesellschaft bereits digital beeinflusst ist und sich damit die weitere Diskussion weg von den rein technischen Aspekten vielmehr um die sozialen Auswirkungen drehen muss.
«Der Begriff Digitalität ist eine Wortschöpfung aus Digital und Materialität/Realität. Digitalität wurde in geisteswissenschaftlichen Kontexten entwickelt.
… Damit eröffnet Digitalität im Gegensatz zu Digitalisierung (siehe auch digitale Transformation) eine nicht technikfixierte Perspektive auf Veränderungsprozesse des 21. Jahrhunderts. Somit werden Aspekte des "Sozialen" in den Veränderungs-Diskurs getragen, der Lebenswelten (und damit Arbeits-, Bildungs- und Freizeitwelt) und Handlungssysteme (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft) beeinflusst.»
Unsere Welt ist auch eine digitale. Somit findet Bildung, und natürlich auch Naturbezogene Umweltbildung, bereits in einem Umfeld des Digitalen statt. Es liegt an den Beteiligten, die (mehr oder weniger) neuen Möglichkeiten und Gefahren aber auch die (mehr oder weniger) neuen gesellschaftlichen Ansprüche und Chancen sowie die (mehr oder weniger) neuen Paradigmen mit aller bestehenden Erfahrung weiter zu einer zeitgemässen Bildung zu entwickeln.

Es geht um mehr als Apps und digitale Whiteboards
Der Begriff Digitalität legt auch nahe, dass sich die Diskussion um gute Bildung in digitalen Zeiten keineswegs nur um Apps und Tools, um Plattformen und Clouds etc. drehen darf. Es soll nicht bei der Verhandlung eines «Mehrwerts» einer digitalisierten Lösung bleiben. Wir müssen uns fragen, wie gute Bildung in Zeiten der Digitalität aussieht, was gute (N)UB ausmacht. Dafür müssen wir «das Neue» erfassen, das durch diese digitale Transformation entsteht (oder bereits entstanden ist). Es ermöglicht uns auch, die aktuelle Praxis der (N)UB kritisch zu reflektieren und an den Ansprüchen einer echten Bildung für Nachhaltige Entwicklung zu messen.
NUB: eine zeitgemässe Bildung für Nachhaltige Entwicklung

Ich bin Optimist. Ich sehe in der digitalen Transformation viel Potential, die verstaubte Bildung positiv zu reformieren (das aktuelle Schulsystem wurde vor über 100 Jahren «gebaut», in und für die damalige (Industrie-)Gesellschaft). Ich glaube auch die – in der Regel ja tendenziell reformpädagogisch orientierte – Naturbezogene Umweltbildung kann und muss sich in Zeiten der Digitalität weiterentwickeln. Sie muss sich an die neuen Bedingungen anpassen, kann die neuen Möglichkeiten nutzen und damit umgekehrt auch eine neue, nachhaltige Bildung in der Digitalität mitgestalten und -prägen.
Aber nur, wenn wir (Umwelt-)Bildungsfachleute uns mit der Kultur der Digitalität, ihren Charakteristiken, Funktionsweisen und Normen sowie ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Bildung auseinandersetzen und unsere eigenen Haltungen, Werte, Absichten, Ziele und Methoden laufend selbstkritisch hinterfragen und überprüfen, können wir zeitgemässe Bildung betreiben.
Wenn wir unseren Anspruch auf Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung selber wirklich ernst nehmen, müssen wir die Kultur der Digitalität mitprägen.
Denn, wie der Autor Felix Stalder in «Kultur der Digitalität» schreibt:
«Die Zukunft ist offen. Unser Handeln bestimmt, ob wir in einer postdemokratischen Welt der Überwachung und der Wissensmonopole oder in einer Kultur der Commons und der Partizipation leben werden.» (zitiert aus Wikipedia)
Eine Bildung der Commons und der Partizipation in einer Kultur der Commons und der Partizipation… das wäre doch ein Ziel!
Und da hat die NUB definitiv etwas beizutragen. Und auch einiges zu lernen, oder?
Ein paar weiterführend Links
Björn Nölte und Hendrik Haverkamp reden mit Jöran Muuß-Merholz / edukativ.fm über Barcamps von und mit Schüler*innen. Podcast, 56min
Rezension im Schule Social Media-Blog von Philippe Wampfler (Lehrer, Fachdidaktiker, Kulturwissenschaftler und Experte für Lernen mit Neuen Medien)
Christian Stocker, Stiftung SILVIVA
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Rahel Wöhrle (Montag, 13 Juli 2020 14:36)
Ich finde unbedingt, dass wir als Akteure der naturbezogenen Umweltbildung uns mit den Veränderungen, den Chancen, Möglichkeiten, aber auch den Herausforderungen und Risiken der Digitalität auseinandersetzen und einen Standpunkt dazu - oder vielleicht besser "Standraum" finden sollten.
Denn wenn wir alles, was mit Digitalität zu tun hat, pauschal ablehnen, sagen wir damit auch, dass wir unser Bildungsverständnis nicht überprüfen wollen.
Und wenn wir uns nicht mit der Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen, haben wir nicht den ganzen Menschen im Blick.
Markus Dotterweich (Dienstag, 14 Juli 2020 09:39)
"Smartphone und Co haben in der Umweltbildung nichts zu suchen", "Originäre Umwelterfahrungen sind nur analog in der Natur möglich", "...jetzt haben wir die Jugendlichen endlich weg vom PC und raus in den Wald bekommen, jetzt sollen sie schon wieder so eine Technikkiste in die Hand nehmen?"
Solche und ähnliche Sätze bekomme ich oft bei bei meinen Vorträgen oder auf Veranstaltungen zu NUB und Digitalität in Deutschland zu hören. Es werden Studien aus der Gehirnforschung herangezogen, die zeigen sollen, welche fatalen Auswirkungen das exzessive Gaming am PC bei den Jugendlichen verursacht. Die klassische "nicht-digitale NUB" wird nicht selten als Detox-Maßnahme, zur Erdung, ja sogar als Instrument zur Heilung von allen möglichen psychischen und physiologischen Erkrankungen gepriesen.
Hier gibt es Fronten, die man ernst nehmen muss. Es besteht die Angst, dass die letzte analoge Bastion nun auch dem Digitalen zum Opfer fällt. Naturerfahrungen werden in Zukunft nur noch vom heimischen Wohnzimmer mittels VR-Brille erlebt.
Ich verstehe diese Ängste, doch gerade deshalb sollte man sich diesem Thema besonders widmen. Denn eine digitale Umweltbildung birgt auch enorme Chancen. Meist sind es nur Missverständnisse. Es geht nicht darum, das Analoge zu digitalisieren, sondern mit der Technik Dinge zu tun, die Analog überhaupt nicht möglich sind. Sie müssen einen echten pädagogischen Mehrwert mit Erlebnischarakter haben. Sie sollen das Bestehende sinnvoll ergänzen, nicht ersetzen.
Stellen wir uns vor, man könnte mit dem Smartphone direkt auf einem Baum, den sonst unsichtbaren Prozess der Photysynthese projezieren. Wie wäre es, wenn man in Echtzeit die reale Umgebung aus den Augen einer Biene oder das Hörspektrum einer Fledermaus direkt erleben könnte? Wie erlebt ein Adler die Landschaft? Gehen wir noch einen Schritt weiter: Vogelstimmen oder Waldrauschen fühlbar machen, damit auch Gehörlose bzw. Blinde eine neue Art der Naturerfahrung erhalten. Inklusion und Digitalisierung, was für Potentiale tun sich hier auf? Was wäre, wenn man immersive Verschiebungen erzeugt, indem das Unsichtbare sichtbar, spürbar oder hörbar gemacht werden? Gleiches gilt, wenn das Unhörbare hörbar, sichtbar, riechbar, usw. gemacht werden.
Das Smartphone muss als Werkzeug und nicht als Konsummedium eingesetzt werden! Es muss als Hammer verstanden werden, dann erscheinen auch überall die Nägel. Die Techik ist bereits da, erste Ansätze gibt es, jedoch sind wir von einem sinnvollen Einsatz oft noch meilenweit entfernt. Wir benötigen hier noch einiges an Forschung aber auch Überzeugungsarbeit mit guten Vorzeigeprojekten.
Kontakt:
Markus Dotterweich
dotterweich@udata.de
+49176-10047372
Christian Stocker (Montag, 03 August 2020 14:50)
Lieber Markus Dotterweich
Vielen Dank für den Kommentar.
(und entschuldigen Sie die lange Stille meinerseits). ((anscheinend ist die Community nicht so gross – oder interessiert-, dass sich da automatisch eine Diskussion entwickeln würde))
Ich denke, das bringt vieles ziemlich auf den Punkt und mir gefallen die gewählten Beispiele wie digitale Medien oder Hilfsmittel in der NUB eingesetzt werden könn(t)en.
Ich denke auch, dass wir bei den Möglichkeiten des Handys in der NUB hächstens an der Oberfläche kratzen. Das heisst wie gesagt nicht, dass wir «entweder oder» machen sollen, sondern «sowohl als auch».
In diesem Zusammenhang finde ich den Begriff für Smartphone von Lisa Rosa sehr interessant: Kulturzugangsgerät (https://shiftingschool.wordpress.com/2014/10/21/kulturzugangsgerat-kleine-abhandlung/)
Nur schon mit diesem Titel könnte man doch Digitalisierung in der Bildung ganz offen betrachten.
Und im nächsten Blog Post (https://www.silviva.ch/2020/07/13/das-4k-modell-des-lernens-die-kompetenzen-f%C3%BCr-das-21-jahrhundert-lernen-was-computer-nicht-k%C3%B6nnen/) versuche ich noch auf eine andere Ebene zu gehen. Dort plädiere ich dafür, dass wir in der NUB von den (fortschrittlichen) Bildungs-Digitalisierungs-Fachleuten für unsere Methodik doch noch was lernen könnten. Also vom «entweder oder» zum «Zusammen».
Ich würde mich freuen, Sie am 12.9. in Magglingen zu sehen. Auch wenn ich weiss, dass die Reise lange ist…