
Das forum. ernährung heute (f.eh) ist ein Verein zur Förderung von Ernährungsinformationen mit Sitz in Wien. An erster Stelle steht die Vermittlung von ausgewogenen, wissenschaftlich fundierten Informationen und konkreten Handlungsempfehlungen zu den Themen Ernährung, Bewegung und Lebensstile.
In einer globalisierten Ernährungswelt heißt es auch zu lernen, verantwortungsbewusst mit der Umwelt und Gesellschaft umzugehen. Wie sehr überlappen ökologische und gesundheitliche Konzepte? Was
kann Bildung für nachhaltige Entwicklung bewirken?
Lesen Sie den Beitrag von Rolf Jucker zum 8. f.eh-Symposium "Nachhaltig essen. Ernährungsökologie - ein Bildungsprozess" vom 10. Oktober 2019.
Angekommen im Anthropozän
Wir sind wirklich im Anthropozän angekommen: Seit spätestens den 1950er Jahren nimmt der menschliche (Zerstörungs-) Einfluss auf unser Lebensversicherungssystem Erde exponentiell zu. Laut dem jüngsten IPCC-Bericht müssen wir bis 2050, besser bis 2040 unseren CO2-Ausstoss um 100% reduzieren und gemäss IPBES zeigen die grosse Mehrzahl der Biodiversitäts- und Ökosystemindikatoren massive Verschlechterungen. Die zentralen Treiber dafür sind die Verdoppelung der Weltbevölkerung, die Vervierfachung der globalen Wirtschaft und die Verzehnfachung des globalen Handels in den letzten 50 Jahren. Die zunehmende Naturentfremdung, die Fokussierung aufs individuelle Wohlbefinden und die Veränderung der sozialen Interaktion durch soziale Medien tragen das ihre dazu bei.
Hilft Bildung?
Wie gehen wir damit um? Die oft und üblicherweise gegebene Antwort ist: Bildung. Diese kann helfen, aber nur, wenn sie gekoppelt ist an eine realistische, wissensbasierte, komplexe Weltwahrnehmung, die sich keinen (Selbst-) Illusionen hingibt. Denn in unserem wirtschaftlichen und sozialen System führt gute Bildung zu besser bezahlten Jobs, was sich direkt in höheren ökologischen Fussabdruck übersetzt, trotz gegensätzlicher Selbsteinschätzung als umweltbewusste, ökologisch verantwortliche Bürger*innen: Eine Studie des deutschen Umweltbundesamts zeigt eindrücklich: diejenigen, die sich selber als ökologisch nachhaltig einschätzen, haben den zweithöchsten realen Ressourcenverbrauch.
Kognitive Verzerrungen führen uns in die Irre
Unser Gehirn und Wahrnehmungssystem verleitet uns mit verschiedensten kognitiven Verzerrungen dazu, die Realität nicht wirklich wahrzunehmen, sondern zu unseren Gunsten umzudeuten. D.h. wir sind meist gefangen im individuellen, persönlichen Alltagsblick und schaffen es kaum, den systemischen Blick aufs Ganze und auf die Konsequenzen unserer individuellen Taten zu richten (Beispiel Ferienflüge). Gleichzeitig blenden wir mit diesem individualistischen Blick die ganz realen Macht- und Reichtumsstrukturen aus, welche unsere (ökologischen) Handlungsmöglichkeiten massiv einschränken.
Dabei lassen wir meist Effektstärken unserer Handlungen ausser Acht, oft, weil dies unangenehme Diskussionen bedingen würde: ein Kind weniger zu haben oder nie im Leben ein Auto zu besitzen, hat
massiv positivere Umweltwirkungen als die ewigen Aufforderungen, das Licht zu löschen oder Wasser zu sparen. Gleichzeitig können wir mit individuellen Handlungen maximal ein Drittel unseres
ökologischen und Klimaeinflusses steuern: den Rest müssen wir über Änderungen von politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingen leisten, die sicherstellen, dass die negativen Auswirkungen gar
nicht oder nur unter hohen individuellen Kosten eintreten können.
Neue Bilder für eine komplexe Welt
Auch hier zeigt sich, dass vereinfachende Antworten wie ‘lebe vegan’ nicht helfen: die besten Lösungen sind komplex und nicht ideologiekonform. Bezogen auf Bildung heisst das, dass wir uns von einfachen, intuitiven Rezepten verabschieden müssen. Die Lern- und Hirnforschung zeigt klar, dass wir nur dann unsere komplexe Realität angemessen wahrnehmen können, wenn wir unsere Lernangebote entsprechend ausrichten und uns unserer kognitiven Beschränkungen bewusst sind. Wir müssen komplexe mentale Modelle fördern, die sich der Versuchung widersetzen, unzulässig zu reduzieren. D.h., wir können uns nur auf offene, fehlertolerante und evidenzbasierte wissenschaftliche Zugänge zu Weltverständnis verlassen, nicht auf Alltagswissen, Intuition, Glauben oder Tradition. Dabei benötigen wir den externen, systemischen Blick und die Prüfung durch andere: unsere Geschichten, die wir uns zur Selbstrechtfertigung erzählen, sind äusserst unzuverlässig. Wollen wir wirklich die eingangs geschilderten Herausforderungen lösen, geht das nur mit dem besten vorhandenen Systemwissen, Handlungswissen und Wirksamkeitswissen.
Handeln aus Systemverständnis
Bildung ist also nicht die alleinselig machende Lösung: qualitativ bestmögliche Bildung hilft, ersetzt aber nicht den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbau, der für die Bewältigung der Klimakrise nötig ist. Ohne Systemblick aufs Ganz bei allem, was wir tun, werden wir uns im besten Fall Ignoranz, im schlimmsten Fall eine dramatische Verschlechterung einhandeln. Aus der Geschichte wissen wir, dass sich über Nacht Dinge entwickeln können, die bis kurz vorher absolut unmöglich schienen. Deswegen ist die Hoffnung berechtigt, dass wir die Klimakrise bewältigen. Doch sollten wir uns keine Illusionen machen über die Widerstandsfähigkeit veralteter mentaler Modelle sowie realer Macht- und Infrastrukturen, die sich diesem Wandel entgegenstellen werden. Der oben eingeforderte Systemblick ist unsere realistische Möglichkeit, unser Handeln auszurichten am übergeordneten Ziel einer gerechten, nachhaltigen Welt, die auch zukünftigen Generationen ein würdiges Leben ermöglicht.
Rolf Jucker, Stiftung SILVIVA
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